Nähe

nähe von dana berg


Das Milgram-Experiment wird immer noch für den ultimativen Nachweis autoritärer Hörigkeit und Gewaltbereitschaft herangezogen. Dabei wird gerne unterschlagen, dass Milgram viele differenzierte Versuchsreihen ausführte. In seinen Versuchsanordnungen steigerte er schrittweise die Nähe zwischen den Probanden, von der Sichtbarkeit bis zur Berührung, systematisch baute er die Anonymität ab. Stark vereinfacht ließe sich sagen, umso größer die Nähe zwischen „Lehrer“ und „Schüler“ bzw. „Täter“ und „Opfer“, desto mehr nahmen autoritäre Hörigkeit und Gewaltbereitschaft ab. Damit scheint also auch bewiesen: Unsere Empathie ist vorhanden, aber sie ist streng limitiert. Eines der wichtigsten Gebote, so lehrt uns die Heilige Schrift, lautet: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Doch das Experiment legt nahe, dass es uns an dieser Liebe nicht gebricht. Zumal der oder die Nächste ja immer eine Frage des eigenen begrenzten Milieus ist, uns also gleicht bis aufs mentale Unterhemd. Soziale Distanz, ein äußerst unglücklicher Begriff, muss uns nicht erst verordnet werden, wir beherrschen sie perfekt. Wir lieben uns selbst wie den nächsten, der uns nah, weil ähnlich ist.


Wir müssten – um es biblisch auszudrücken – tatsächlich lernen, den Fernsten wie uns selbst zu lieben, letztlich den Fremden, die Fremde. Was auch bedeutet, dass wir, folgt man der Logik des Experiments, hoffnungslos verloren sind. Man bräuchte eine Fühl-und-Tastkette, die die ganze Welt umspannte und wer gibt oder nimmt schon gern des Fremden Hand. Liebe also lieber den nächsten, der uns in pandemischen Zeiten gerade durch die gesteigerte Nähe zum Fremden wird. Ein weiteres Paradox.


Ein zu viel an ungewohnter Nähe, kann unsere furchtbarsten Eigenschaften offenlegen, Grausamkeiten und Gewalt entfesseln. Soziolog*innen haben festgestellt, dass Scheidungen und Trennungen sich besonders nach langen, ausgiebigen Nah-Situationen häufen: Weihnachten, Urlaub etc. Manche Beziehungen können sich nur über eine günstige Verteilung aus An- und Abwesenheit stabilisieren. Aber was, wenn man nicht flüchten kann? Wenn Nähe zum Gebot wird.


Schweigen, so höre ich in einer Radiosendung, ist ein untrügliches Zeichen für das Ende einer Beziehung. Schweigen, so höre ich, kann schnell in Gewalt umschlagen.


Ich lebe, wir leben zu zweit, wir können uns räumlich verteilen, wir sind privilegierte Heimarbeiter, die jeweils ein Arbeitszimmer nutzen, um sich später auf neutralem Küchenboden zu verabreden. Wir haben Glück, in unserer „Hütte“ fänden viele Hütten platz, ein Glück, das kaum zu ertragen, fast obszön ist. Wird uns unsere Hütte zu eng, dürfen wir in einem Park spazieren oder die Vorzüge Balkoniens preisen. Wir haben Glück, in die richtige Hemisphäre geworfen zu sein, auch wenn unser Glück für andere wiederum bescheiden ist. Wir haben Glück, denke ich, gerade weil wir uns streiten, alle Jubel-Wochen zieht ein Gewitter auf, erst verdüstert es uns von innen, dann schlägt die Düsternis nach außen. Was im leisen Gespräch beginnt, da ein jeder von uns um Verständnis ringt, steigert sich in extremis zur Wut. Zur Not können wir voreinander flüchten, die Zimmer durchwandern, bis die Wut, die sich selten bis nie gegen uns richtet, für die wir nur ein Blitzableiter sind, abgeklungen ist. Wir haben die Gewitter ertragen gelernt, wir freuen uns auf die Katharsis am nächsten Morgen. Diese Wut ist ein Gemisch aus Sorge, Angst und Überforderung, der ständigen Ungewissheit: Wie es nun weitergeht, wenn die Existenz wegzubrechen droht, weil auch wir gelegentlich vergessen, wie privilegiert wir sind, weil wir eine Existenz haben, um die wir bangen dürfen.


„Privileg ist etwas anderes. Privileg ist ein Urteil. Privileg ist eine Ansicht. Privileg ist ein Vorwurf.“
(Joan Didion)


Therapeut*innen raten Paaren, sich bei einem Streit zu berühren, die Hände zu halten, körperliche Nähe herzustellen, dann sei es quasi ausgeschlossen, dass der Streit eskaliere. Wir brauchen eine Fühl-und-Tastkette, die die ganze Welt umspannte, in einer Zeit, da man nur den Nächsten berühren sollte. Wir sind verloren. Wir waren es immer.


Wir sind privilegiert, weil wir zu zweit, weil wir ein Paar sind, dass sich berühren, dass kommunizieren, Zärtlichkeiten austauschen und sich permanent in ein WIR flüchten darf, um der Welt zu trotzen. Wir sind nicht allein, dürfen wir uns sagen und uns gegenseitig Zutrauen, Hoffnung oder Mut zusprechen. Dieses WIR ist noch recht jung und ich erinnere mich gut an das Leben in Einter-Person-Einzahl. Ich versuche dieses brüchige und einsame Leben ins Jetzt zu übersetzen. Ich potenziere diese, meine damalige Einsamkeit, um einen Gradmesser für radikale Einsamkeit zu finden. Kann man noch einsamer als einsam sein.


Ich breche meine Daseins-Übersetzung ab und lese die Statistiken, die Selbstmordrate hatte sich bereits zu Beginn der Pandemie verdreifacht. Meine Krankenkasse ruft an und fragt, ob ich wohlauf bin und empfiehlt mir eine eigens eingerichtete Hotline: „Wenn alle Stricke reißen“. Ich sage, danke, sage, es geht mir gut und beginne nach dem Telefonat zu weinen.


Ich schreibe meinen Freund*innen, Freund*innen schreiben mir, sogar Kolleg*innen, die man nur ab und an sah, mit denen man eigentlich wenig Verbindendes aufbauen konnte, schreiben plötzlich privatime Nachrichten oder rufen an. Es wird eine Sehnsucht deutlich, die sich in der Geschlossenheit einer Gesellschaft auftut, die die Mittel hat, diese zu überwinden. Wir sind privilegiert – das ist ein Urteil– und teilen uns ein Milieu, eine beengte Solidargemeinschaft, soweit unsere Nähe reicht, nicht zuletzt, weil man mit den eigenen Ängsten nicht allein bleiben will, weil es gut ist, zu wissen, dass man diese Ängste teilen kann. Geteilte Angst ist halbe Angst.


Zugleich wird ersichtlich, wie erschöpfend diese vermittelte Nähe für alle Beteiligten ist, der Ansturm der Nachrichten wird schwächer und schwächer. Diese Nähe ist nur ein trauriges Surrogat, und wie alle Ersatzhandlungen nicht von Dauer, geschweige befriedigend. Die künstliche Nähe markiert den realen Abstand umso deutlicher. Wer Nähe sagt, muss Abstand denken.


Nähe und Abstand, genauer: Nähe und Distanz. In den ersten Wochen gleicht das öffentliche Leben einer Pina-Bausch-Performance, alles scheint choreographiert. Es gibt eine Schönheit in den Umkreisungen, den Abstandspirouetten im Supermarkt, die mir nicht mehr aus dem Kopf will. Es gibt eine Höflichkeit, die ich lange vermisste. Man lässt sich den Vortritt, man übt sich in Geduld und Nachsicht. Man wahrt den persönlichen Mindestabstand und lernt, dass es keinen Mangel auf der Post gibt und Drängeln nicht notwendig ist: Wir zivilisieren voran, will mir scheinen. Aber auch dieses Verhältnis kippt. Die Performance zerbricht schon im nächsten Augenblick, der Alltag fordert seine darwinistischen Prinzipien zurück. Wir sind, wer wir immer waren. Es war nur ein kurzer Augenblick, vielleicht waren wir für diesen kurzen Augenblick tatsächlich solidarisch, zumindest höflich.


Wer Abstand denkt und Nähe sagt, kommt nicht umhin die schöne, aber etwas angestaubte Vokabel Solidarität zu bemühen. Auch Solidarität ist räumlich, so lerne ich dieser Tage, sehr begrenzt, sie wächst in Hausgemeinschaften und endet spätestens an den Landesgrenzen. Wir haben gerade genug Mitgefühl für uns übrig, es reicht, so scheint es, einfach nicht aus, um auch jene einzuschließen, die sich nicht einfach unter dieses seltsame Fürwort subsumieren / integrieren lassen. Unsere Solidarität beschränkt sich auf den Erhalt von Privilegien einer kleinen Gruppe. Unsere Fühl-und-Tastkette reicht nicht sehr weit, sie bricht ständig ab. Wir sind unfähig, außerhalb unseres Milieus zu denken und noch schlimmer, wir scheitern bereits innerhalb unserer Solidargemeinschaft, die an Klopapier und Nudeln in ihre narzisstischen, individualistischen Einzelbestandteile zerbricht. Unsere Empathie ist vorhanden, aber räumlich streng limitiert. Zivilisation erweist sich als brüchiges Konstrukt. Solidarität, scheint nichts weiter, als ein neues Wort für Besitz- und Wohlstandswahrung. Solidarität ist ein Privileg, das ist eine Ansicht, ein Urteil, ein Vorwurf, etwas anderes.


Ich warte auf das nächste Gewitter, ich weiß der Abstand zwischen Donner und Blitz wird kürzer, das Gewitter macht Nähe als Gefahr fühlbar. Ich zähle, ich warte, dass der Blitz einschlägt. Ich erwarte die Katharsis, schließlich bin ich privilegiert und weine, weil auf der Ampelschalte ein Gebot biblischen Ausmaßes steht:


Bitte berühren! 


(nh)